Überlegst du noch, ob die ambulante Pflege etwas für dich ist?
Spätestens seit Corona wird nicht nur geklatscht für die Pflege, sondern auch mal diskutiert. Meistens mit Schlagwörtern wie „zu geringe Bezahlung“, „zu viel Stress“, „Doppelschichten“, „extreme Belastung“.
Ich zeig dir heute mal, dass der Job auch lustig sein kann und sehr oft wirklich Spaß macht.
Also, zieh deine Turnschuhe an. Ich nehme dich mit zum Frühdienst im ambulanten Pflegedienst.
Der Wecker klingelt erbarmungslos um halb 5. Ja, auch ich fühle mich um diese Uhrzeit wie ein angeschossenes Eichhörnchen. Was mich um die Zeit schon bei Laune hält, ist zu wissen, dass ich spätestens um 13 Uhr Feierabend habe, während die meisten um diese Zeit noch gut 4 Stunden Büro vor sich haben.
Schnell Morgentoilette erledigen, irgendwas Essbares und Kaffee für unterwegs vorbereiten, den Hund durch die Büsche jagen und los.
Wir müssen zuerst ins Büro fahren und die Medikamente für die Patienten holen.
Jetzt geht`s los. Am besten steigst du auf der Beifahrerseite ein, ich fahre. Um diese Zeit ist fast kein Verkehr auf der Straße. Wir können also ein bisschen Gas geben. Geblitzt wird auch meistens erst später.
Die Kollegin ruft an, weil sie irgendetwas wissen will. Ich erkläre es ihr ausführlich auf dem Weg zu Fr. M, als ich aus dem Augenwinkel das blau-weiße Motorrad erkenne. Vor Schreck fällt mir das Handy unter den Sitz. Vielleicht hat der Polizist ja nicht gesehen, dass ich während der Fahrt telefoniere.
Was soll ich sagen? Natürlich hat er es gesehen. Deshalb hält er mich ja an. Dummerweise habe ich nur die Fahrzeugpapiere dabei. Weder Führerschein noch Personalausweis.
„Ist doch gefährlich, beim Fahren zu telefonieren“, sagt er, „nachher passiert was und ihr habt noch mehr Patienten.“ Wo er recht hat, ….
„100 € und 1 Punkt macht das.“
„Ui, ui, ui“, sag ich, „das ist aber viel“.
„Das ist viel“, sagt er und gibt mir die Fahrzeugpapiere mit einem Augenzwinkern zurück, „schönen Tag noch.“
„Wie?“, sage ich. „Sind wir fertig?“
„Wir sind sowas von fertig“, sagt er lachend und braust mit seinem Motorrad davon.
Polizisten und Pflegekräfte verstehen sich.
Jetzt aber Vollgas, Fr. M. wartet schon.
„Bist spät heute“, sagt sie und schluckt die Tabletten, die ich ihr mitbringe.
„Bin von der Polizei angehalten worden“, gebe ich schuldbewusst zu.
„Muss auch ma sein“, entgegnet sie. Die Kommunikation klappt heute wieder. Aber ist ja noch früh.
Ich begleite sie ins Badezimmer. Während ich ihr den Rücken wasche, plappert sie unentwegt drauflos. „Mein Sparbuch ist weg“, sagt sie.
„Oh“, entgegne ich, „war denn viel drauf?“
„Nein, noch mehr.“
Ich rede ab jetzt nicht mehr und höre nur noch zu.
„Kommste morgen wieder?“, fragt sie zum Abschied. Na klar. Sie scheint sich zu freuen.
Der nächste ist Herr G. Wir gehen mit Schlüssel zu ihm rein. Er hockt auf seinem Sessel und bringt wie jeden Tag keinen Guten-Morgen hervor. Stattdessen brummt er nur „Hasse Zigarette“. Ne, ich rauche nicht. „Kannse ma gucken“, sagt er dann, „hier tut´s weh“, und zieht seine Hose runter. Ich sehe die Sonne aufgehen und einen beginnenden Dekubitus. Ich rate ihm, sich dringend mal etwas mehr zu bewegen und nicht immer nur auf dem Hintern zu sitzen, weiß aber, dass er das nicht machen wird. Vorsichtshalber rufe ich schon mal den Hausarzt an und bestelle Schaumverband.
Nach den nächsten beiden Patienten lege ich einen Zwischenstopp beim Bäcker ein. Meine Ökobilanz ist zugegebenermaßen während meiner Frühtour nicht besonders gut. Ich bestelle einen Coffee-to-go und überlege, ob ich mal schnell das stille Örtchen aufsuche. In Gedanken überfliege ich die nächsten Patienten und entscheide mich, lieber beim Bäcker zur Toilette zu gehen.
Ich verteile Medikamente an vier weitere Patienten und höre mir hier und da ein paar Wehwehchen an. Auf dem weiteren Weg halte ich kurz an der Praxis von Dr. D. Gestern hatte ich per Fax ein Rezept über 2 Medikamente für Fr. J. bestellt. Auf dem Rezept steht nur ein Medikament. Ich frage, was mit dem anderen ist. „Das wurde nicht bestellt“, höre ich als Antwort. Ja, ja, das böse Fax. Hat wieder einfach eine Zeile gelöscht. Dafür ist die ärztliche Verordnung für Fr. M. fertig. Als Diagnose steht dort „chronische schizoaffektive Störung, wenn`s das gäbe“. Manchmal wissen auch Ärzte nicht, was los ist.
Jetzt muss ich mich beeilen, um rechtzeitig bei Fr. Sch. zu sein. Sonst regt sie sich wieder auf. Sie sitzt wie meistens morgens vor dem Fernseher und sieht sich auf irgendeinem Kanal einen Gottesdienst an. Wie jeden Tag zählt sie mir auf, welche einzelnen Knochen in ihrem Körper wehtun und dass der Stuhlgang auch nicht so funktioniert, wie sie es will. Es gibt Informationen, die brauche ich nicht. Aber gut, ist wichtig für sie und sie muss es loswerden.
Während ich meine Eintragungen im Pflegebericht mache, sagt sie plötzlich mit Blick auf den Fernseher: „Man sieht nie Flüchtlinge in den Kirchen.“
Könnte vielleicht daran liegen, dass die meisten Flüchtlinge Muslime sind. Sie sieht mich an, als hätte ich klingonisch mit ihr gesprochen. Ich verkneife mir ein Lachen und die Erklärung.
Frau M. wohnt im 5. Stock. Wie jeden 2. Tag ist der Aufzug kaputt. Sieh es positiv, das Sportprogramm hast du für heute erledigt.
Oben angekommen brauche ich aber trotzdem erst mal ein Sauerstoffzelt. Die 10 Minuten, die es dauert, bis ich wieder normal atmen kann, sind in der Zeitplanung schon berücksichtigt. Frau M. hat mir Kaffee hingestellt. Ich ziehe ihr die Kompressionsstrümpfe an und dann ist kurz Zeit für ein Quätschchen. Die Nachbarin, Frau D., war zur Darmspiegelung. War aber alles in Ordnung. Das ist wichtig für mich zu wissen, ich hätte sonst heute Abend nicht schlafen können. Am Wochenende kommt der Sohn aus Hamburg. Vielleicht geht er mal mit ihr spazieren. Während ich mich verabschiede, überlege ich, wie Frau M. mit 85 Jahren den 5. Stock erklimmen kann, wenn der Aufzug nicht geht. Mein biologisches Alter scheint bereits dreistellig zu sein. Ich muss dringend mehr Sport treiben.
"Mein Mann hat Wasser in die Urinflasche geschüttet und daraus getrunken", empfängt mich Frau W. Immerhin war es nur Wasser, denke ich. Herr W. ist dement, aber leider versteht seine Frau nicht, warum er sich plötzlich so verändert hat und ständig dumme Sachen macht. Ich nehme ihn mit ins Badezimmer und helfe ihm beim Waschen. Jeden Schritt muss ich ihm erklären, er kann Vieles nicht mehr umsetzen. Als ich ihm sage, er soll sich die Zähne putzen, will er zur Klobürste greifen. Ich schreite ein und helfe ihm. Ja, es ist traurig und ich verstehe die Ängste seiner Frau. Dennoch ist Herr W. immer glücklich und gut gelaunt. Und wenn die Katze an seinen Beinen entlang streicht, lacht er herzlich. Ich mag ihn sehr.
So, jetzt haben wir es bald geschafft. Es stehen noch 2 Grundpflegen an und ein Verbandswechsel. Am Wochenende fahre ich am liebsten. Da sind die Straßen schön leer. Man sieht fast nur Pflegedienst-Autos. Ich winke mal freundlich. Sind ja alles Leidensgenossen. Manche winken freundlich zurück, andere sehen mich an, als wäre ich vom anderen Stern.
Der Himmel verfinstert sich. „Pünktlich zum Wochenende regnet es wieder“, sage ich zu Frau S. „Haben Sie denn frei?“, fragt sie. „Nein, ich muss arbeiten. „Na, dann geht`s ja“, meint sie. Wenn sie das sagt…
Als ich bei Fr. H. ankomme, fragt sie mich, ob ich ihr noch jemanden zum Einkaufen schicken kann. Leider nein, unsere Betreuungskräfte haben schon alle frei.
„Aber ick hab doch nüscht mehr“, sagt sie in ihrem Berliner Dialekt, „und morgen ist Feiertag.“
Na schön, dann fahre ich schnell zum Supermarkt. Ich könnte nicht ruhigen Gewissens nach Hause fahren, wenn ich weiß, sie und ihr Mann haben nichts mehr zu essen.
Während sie ihren Einkaufszettel schreibt, zählt sie auf Französisch die Preise zusammen. Ich bin beeindruckt. „Ick bin doch in Frankreich uffjewachsen“, sagt sie. Das wusste ich, aber ich hätte nicht gedacht, dass sie noch Französisch spricht. „Klar, kann ick det noch.“ Na klar.
Als sie mir den Einkaufszettel gibt, frage ich sie, ob das ihr Ernst ist. 2 Flaschen Korn (aber den billigen), 2 Dosen Tabak (auch den billigen), Hülsen und eine Packung Schoko-Croissants für den Mann. Ich hab mich noch nie so geschämt beim Einkaufen.
Jetzt haben wir es gleich geschafft. Noch schnell zum Büro, alle Tablettendosetten und Patientenschlüssel für den Spätdienst zurückbringen, dann ist Feierabend. Es ist noch keine 13 Uhr. Der Tag gehört uns.
Und hey, man kann sicherlich darüber streiten, ob die Bezahlung angemessen ist, aber glaube mir, es gibt schlechter bezahlte Jobs, für mehr Arbeit und weniger Befriedigung.
Und am Ende des Tages zählt doch nur, dass alle glücklich und versorgt sind.